OBWOHL ES DAS DOCH GESTERN NOCH KONNTE.
Solche oder ähnliche Sätze sind oft von Eltern oder Erziehern zu hören!
Möglicherweise folgen dann noch weitere Sätze , wie beispielsweise:
„Wenn du dich jetzt nicht anziehst, darfst du nicht auf den Spielplatz“.
Oder:
„Wenn du dich jetzt nicht entschuldigst, darfst du (Kind 2,5 bis 7 Jahre) nicht mehr mit uns spielen.“ und so weiter.
An dieser Stelle möchte ich folgendes Beispiel bringen, das ich oft in Elternkursen oder pädagogischen Seminaren erzähle:
„Was meinen Sie, welche Kinder besser laufen werden? Die, die wir schon früh dazu motivierten, SELBER zu laufen oder jene, die wir LANGE ZEIT auf unserem Arm trugen? „
ANTWORTEN SIE JETZT BITTE NOCH NICHT, SONDERN LASSEN SIE SICH EIN WENIG ZEIT UND FOLGEN SIE MEINEN AUSFÜHRUNGEN.
Viele Eltern sind sehr stolz darauf, wenn ihre Kinder schon mit 2,5 oder 3 Jahren selbständig sind, zum Beispiel still am Tisch sitzen, selber essen ( mit Löffel und Gabel) oder sich selber anziehen können, sich entschuldigen, wenn sie ein anderes Kind gebissen oder ihrem Geschwister das Spielzeug über den Kopf geschlagen haben…..denn:
DAS haben sie ja (auch) so schon ganz früh in der Kita gelernt!
ErzieherInnen oder Eltern sind dann aber auch oft verdutzt, wenn ihr/ der Sprössling das dann (später) plötzlich nicht mehr kann und bestehen möglicherweise vehement darauf, dass das bereits Erlernte jederzeit wiederholbar und anwendbar ist.
Obwohl es die frühkindlichen Bildungspläne vorschreiben, Kinder möglichst früh in die Selbständigkeit und Partizipation zu bringen, ist es fatal anzunehmen, dass ein „Kind unter sieben“, sein „erlerntes Verhalten“ in jeder Situation wiederholt anwenden kann.
Entwicklungspsychologisch ist das nämlich paradox, Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu früh zu fokussieren.
Warum?
„Kinder unter sieben“ sind keine kleinen Vögel, die aus dem Nest geschubst werden sollten. Kinder lernen nur dann „das Fliegen“, wenn sie ausreichende Wurzeln haben, das heißt, wenn sie bindungssatt sind, denn dann folgt alles andere „ganz von selbst“, auch die Unabhängigkeit und SELBSTÄNDIGKEIT.
Leider wird der „Bindungshunger“, der bei „Kinder unter sieben“ besonders groß ist, nicht kontinuierlich gestillt, zumindest dann nicht, wenn Kinder länger zeitlich von ihren Hauptbindungspersonen (in der Regel sind es die Eltern…) getrennt sind. Das ist jedoch bei den einzelnen Kindern unterschiedlich. Sensible und hypersensitive Kinder können z.B. längere Trennungen schlechter verkraften und „fallen deshalb auf“.
Ein Exkurs
Verfrühte Sozialisierung beinhaltet, dass Kinder sich viel zu früh an gesellschaftliche Erwartungen (Werte und Normen) anpassen müssen, zum Beispeil sich „anständig“ zu benehmen oder sich auch mit anderen Kindern „zu vertragen“. Sie sollten bereits – auch das schreiben frühkindliche Bildungspläne vor- so reagieren, wie es eigentlich erst Erwachsene können. Das ist aber entwicklungspsychologisch überhaupt noch nicht möglich!
Um Werte und Normen verinnerlichen zu können, brauchen Kinder u.a. die Fähigkeit, ihre Gefühle zu mischen und innere Konflikte wahrzunehmen, ohne sich dabei selber zu verlieren.
Das heißt, sich selbst und gleichzeitig auch die Bedürfnisse des anderen zu sehen.
Nämlich: „ Wenn ich dem anderen Kind das Spielzeug wegnehme, verletzte ich es auch.“
Das Mischen der Gefühle ist hirntechnisch jedoch erst frühestens ab dem 5. bis 7. Lebensjahr möglich.- Nebenbei: Viele Erwachsene sind dazu „temporär“ oft auch ( noch) nicht in der Lage dazu!
Deshalb sollten statt der frühen Fokussierung auf Selbständigkeit die Eltern und Pädagogen ein „Puffer“ ( Schutzschild ) sein, um das Kind vor den Anforderungen, denen es gesellschaftlich „ausgeliefert“ ist, zu schützen.
Erst wenn das Kind auch aufgrund seiner Bindungssattheit eine EIGENE Persönlichkeit entwickelt, ist es zur Sozialisierung und Selbständigkeit überhaupt fähig. Dann möchte es, aus sich selber heraus, „ES SELBER MACHEN WOLLEN“ und nicht, weil wir Erwachsene es erwarten!
Zusammenfassung
Unabhängigkeit und Selbständigkeit können nicht „gemacht“ werden. Sie entstehen, wenn die Zeit dafür reif ist und die Kinder sich SICHER fühlen, weil wir sie „gesättigt“ haben.
Rainer Maria Rilke hat das vortrefflich in nachfolgendem Gedicht ausgedrückt:
„Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann;
alles ist Austragen – und dann Gebären…
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte….“
ZIEHEN WIR DESHALB NICHT AM GRAS, DAMIT ES SCHNELLER WÄCHST!
Und was meinen Sie nun:
Welche Kinder werden besser laufen und werden die Kraft ( im Leben ) haben, auf eigenen Füßen zu stehen?
ANMERKUNG
Dieses oben beschriebene Thema ist u.a. Inhalt des Kurses:
„Kinder unter Sieben oder von der Raupe zum Schmetterling“